Forced Feral / Erzwungene Verwilderung

7. April 2021 - Ruth Rubers

Forced Feral / Erzwungene Verwilderung

(english version below)
Nicht ohne meine Kaffeeschuhe! Und nur mit Muschelschalen voller Marmelade nähert man sich den Landschaftskunstwerken des Kunstvereins Springhornhof in der Lüneburger Heide. Direktorin Bettina von Dziembowski lud die Studierenden der Klasse Kayle Brandon/Ruth Rubers/Ingo Vetter/Olav Westphalen von der Hochschule für Künste Bremen nach Neuenkirchen ein, um mit dem Kunstverein und der seit den 1960er Jahren entstandenen und heute rund 40 Werke umfassenden Skulpturen im Landschaftsraum zu arbeiten. Die Corona-Pandemie veränderte alles, die Formen der physischen und sozialen Auseinandersetzung, durchdrang Planung, Umsetzung, Kommunikation und Vermittlung. Die Pandemie wurde zur Bedingung dessen, was wir „Erzwungene Verwilderung“ nennen.
(Verfolge hier unsere Arbeiten am Springhornhof.)

Aus den normalen, alltäglichen, sozialen und räumlichen Beziehungen herausgedrängt und in den Sicherheitsbereich von Hygiene- und Abstandsregelungen getrieben zu werden, erzeugte Nebeneffekte, die durch uns hindurchwirkten. Mit begrenzten Orten, an die wir gehen konnten, wanderten wir gleichzeitig in die Natur und in virtuelle Konferenzräume, gepaart mit Signalangst und Fluchtphantasien. Parallel zu den häuslichen Pflichten des Abwaschs, der Kinderbetreuung oder des Zahnarztbesuchs trafen wir uns widerwillig im virtuellen Raum und induzierten so einen Multi-Raum-Zustand des Ortes. Mit dem Zusammenbruch alter und dem Auftauchen neuer Grenzen wurde die Gewohnheit des täglichen Lebens in ihrer Abwesenheit offenbart und etwas verhedderte sich an den Zäunen der Kategorien häuslich, wild, urban, ländlich. Als wir Wege durch die Zäune fanden, keimte der Zwischenzustand der Verwilderung auf.

Seit Frühjahr 2020 waren wir regelmäßig vor Ort, trafen uns im Kunstverein und okkupierten das Gastatelier. Bettina von Dziembowski ist eine großzügige Gastgeberin und führte uns durch die Gegend und zeigte uns die Werke der. Die langjährige Springhornhof Mitarbeiterin Monika Zimmermann kontaktierte Waldbesitzer und Landwirte und machte uns bekannt mit Personen, die uns weiterhelfen konnten. Wegen Corona durften wir bald nicht mehr als Gruppe auftreten und stattdessen fuhren jede Woche einzelne Studierenden zu ihren individuellen Projekten. Einsinken und sich vertraut machen mit den Orten. Mit der Pandemie veränderten sich Vorgehensweisen und Wünsche und sogar das Zelten im Winter schien nun eine gute Idee zu sein. Aus Seoul, Tokio, Guangzhou, Paris, Bristol, Bremen oder Delmenhorst kommend, verwischte unsere transnationale Erfahrung dessen, was „Land“ definiert, die Grenzen zwischen urbanen und ländlichen Räumen weiter. Um die Gegend zu erkunden, sind wir viel Fahrrad gefahren und lange gelaufen – alles analog mit nach dem Weg fragen, weil der Handyempfang schlecht ist. Überhaupt viel mit den Menschen der Gegend reden, weil es so viele Dinge gab, von denen wir keine Ahnung hatten: Ortstein, Tiefpflügen, furzende Kühe oder wieder eingewanderte herumstreunende Wölfe.

Bei unserer Suche nach Anknüpfungspunkten und Verbindungen waren formale skulpturale Mittel wenig hilfreich. Stattdessen konnten wir uns dem Thema mit Pilzesammeln, Verirren, nassen Füßen und schmutzigen Händen, Tinder-wischen und Sitzen in Bäumen nähern. Wegen den Beschränkungen der Pandemie bekam jedes Werk seine eigene Zeitplanung und damit oft einsame Umsetzung. Die Arbeiten manifestierten sich wie Einzelfiguren: Eunhye Kims Kimchi-Topf gab den Kräften von Verdrängungs- und Assimilationsprozessen eines kulturellen Körpers Ausdruck, dessen Geruch seine Umgebung durchdringt, in die Nasenlöcher steigt und sich mit der Landluft vermischt.

Graben wurde zur populärsten Arbeitsmethode: negative Skulpturen graben, Material ausgraben oder eingraben, sich selbst eingraben. Das Wechselspiel von Spüren und Fühlen führte zu Arbeiten wie Seung Hyun Seos Schlammskulptur, die durch Hände, die Erde klopfen, drücken, in eine Form pressen und dem Wetter erlauben, die Dinge zu verändern, miterschaffen wurde.

Ein weiteres zentrales Material wurde Beton! Wenn es etwas gibt, das dem Stadtbewohner einen Halt in der Kontemplation der Natur gibt, dann ist es eine gehörige Portion Beton. Beton als wichtiger Bestandteil des industriellen Komplexes sowohl in der Stadt, als auch auf dem Land; Beton der große Gleichmacher, aber er ist soo schwer! Das Gewicht zu bewältigen wurde zu einer Beschäftigung, da ein Soundsystem, Hasenohren und vergrabene Pilze alle Beton brauchten. Wir fragen uns, was die großen Findlinge der Lüneburger Heide über diesen Verwandten denken?

Neue Kollaborateure mussten gefunden werden, wie z.B. perfekte Bäume, Pferde oder Jäger, die Löcher schießen, um Bienen zu beherbergen. So entstanden ganz unterschiedliche Werke, die nun entlang des Hahnenbachs zwischen Neuenkirchen und Rutenmühle zu finden sind. Wer ist das Publikum, das wir ansprechen? Die Werke sprechen miteinander, mit den Besuchern des Kunstvereins und der Landschaftskunstwerke, mit der Neuenkirchener Bevölkerung, mit den Füchsen, Rehen, Vögeln und Insekten, mit Flechten, Moosen, Elektrozäunen, Pferdehintern, industrialisierten Feldern, den Steinen und sumpfigen Wünschen. Die künstlerischen Arbeiten werden zu Fäden eines Gewebes und – um bei Donna Haraways Metapher zu bleiben – wenn an einem Faden gezogen wird, offenbaren die Verbindungen eine Bewegung im gesamten Gewebe.

Die Verwilderung ist eine Annäherung an Kräfte und Akteure der umgebenden Natur und Landschaft. Im Video von Minjeong Park verlässt die Stadtbewohnerin ihre Wohnung mit Schuhen aus Instantkaffee, um Spuren im verschneiten Wald hinterlassen zu können. Es gilt, ihre Zimmerpflanze auszusetzen und danach wieder nach Hause zu finden. Die Annäherung findet statt, jedoch mit Blumentopf und damit als Setzung und nicht Verschmelzung mit der Umwelt.

Zu sehen sind Arbeiten von Siman Chen, Yunna Diao, Ada Hillebrecht, Eunhye Kim, Stéphane Krust, Ruth Lübke, Quin Mclennan, Janis Mengel, Philipp Michalski, Anne Nitzpan, Minjeong Park, Laura Pientka, Paul Putzier, Ole Prietz, Martin Reichmann, Berit Riekemann, Seung Hyun Seo, Nala Tessloff, Jana Thiel und Kaori Tomita. Betreut wird das Projekt von Kayle Brandon, Bettina von Dziembowski, Ruth Rubers, Ingo Vetter und Olav Westphalen.

Die Außenprojekte werden individuell realisiert und zwischen März und Juni 2021 abgeschlossen. Eine begleitende Ausstellung im Kunstverein Springhornhof findet vom 26. Juni bis 04. Juli 2021 statt.

Forced Feral ist ein Projekt des Kunstvereins Springhornhof e.V. und der Hochschule für Künste Bremen. Gefördert durch das Land Niedersachsen, Lüneburgischen Landschaftsverband, Karin und Uwe Hollweg Stiftung, Waldemar Koch Stiftung, Fonds Innovative Lehre und Freundeskreis der Hochschule für Künste Bremen.

Verfolge hier unsere Arbeiten am Springhornhof.

Forced Feral

Not without my coffee shoes! And only with clamshells full of jam does one approach the landscape art collection of the Kunstverein Springhornhof in the Lüneburg Heath. Director Bettina von Dziembowski invited the students of the Kayle Brandon/Ruth Rubers/Ingo Vetter/Olav Westphalen class from the Hochschule für Künste Bremen to Neuenkirchen to work with the Kunstverein and the landscape art collection, which has been built up since the 1960s and now comprises around 40 sculptures in the open landscape space. The Corona Pandemic changed everything; modes of physical and social engagement, permeated planning, implementation, communication and mediation. The pandemic became the condition of what we call “Forced Feral”.

Forced out of the normal, everyday habitual social and spatial relationships and herded into the safety perimeter of lockdown, created side effects that worked through us. With limited places to go, we simultaneously migrated into nature and virtual conference rooms with signal anxiety and desires for escape. Parallel to home duties of washing up, child caring or taking trips to the dentist we reluctantly met in virtual space, inducing a multi-space state of place. With the collapse of old limits and the emergence of new ones, the habitual nature of daily-life become revealed in its absence and something got tangled on the fences of domestic, wild, urban, country categories.

As we found ways through the fences, the inbetween state of feralism sprouted.

Since spring 2020, we were regularly on site, meeting at the Kunstverein and occupying the guest studio. Bettina von Dziembowski is a generous hostess and guided us around and showed us the works in the collection. Long-time Springhornhof staff Monika Zimmermann contacted forest owners and farmers and introduced us to people who could help us. Because of Corona, we were soon no longer allowed to go as a group and instead individual students went to their individual

projects each week. Sinking in and getting familiar with the places becomes co-created by the pandemic, desires sifted and even camping in the winter seemed like a good idea. Coming from Seoul, Tokyo, Guangzhou, Paris, Bristol, Bremen or Delmenhorst, our transnational experience of what defines ‘countryside’ blurred the lines between urban and country further. To explore the area we cycled a lot and walked for a long time – all analogue with asking for directions because the mobile phone reception is bad. In general, we talked a lot with the people in the area, because there were so many things we had no idea about: Hardpan, deep ploughing, farting cows and roaming re-introduced wolves.

In our search for starting points and connections, formal sculptural means were of little help. Instead, we could approach it with mushroom picking, getting lost, wet feet and dirty hands, tinder swiping and sitting in trees. Because of the constraints of the pandemic, each work was given its own schedule and thus often solitary realisation. Works manifested like single figurers: Eunhye Kim’s Kimchi pot gave voice for the quite starkness of displacement and assimilation processes of a cultural body who’s smell permeates its area, wafting up nostrils and mixing with country air.

Digging became the most popular working method: digging negative sculptures, digging up or digging in material, digging in ourselves. The interplay of being felt and feeling lead works on, such as Seung Hyun Seo’s mud sculptor, co-created out of hands patting, pressing, pushing earth into a form and allowing weather to change things.

Another central material became concrete! If anything gives the city dweller a foothold in the contemplation of nature, it’s a fair amount of concrete. Concrete, a key agent in the urban and country industrial complex, Concrete the great leveller, but its soo heavy! Negotiating weight became a preoccupation as a sound system, rabbit’s ears and buried mushrooms all needed concrete. We wonder what the great stone boulder of Lüneburg Heath think about this relative?

New collaborators had to be found, such as perfect trees, horses or hunters that shoot holes to house bees. Very different works were created, which can now be found along the Hahnenbach between Neuenkirchen and Rutenmühle. Who is the audience we are addressing? The works talk to one another, to the visitors of the art association and the landscape art collection, to the community of Neuenkirchen residents, to the foxes, deer, birds and insects, to lichens, mosses, electric fences, horse’s bottoms, industrialised fields, the stones and muddy desires. The artistic works become threads of a fabric and – to stay with Donna Haraway’s metaphor – when a thread is pulled, the links reveal a movement in the entire fabric.

Feral is an approach to forces and actors of the surrounding nature and landscape. In Minjeong Park’s video, the city dweller her flat with shoes made of instant coffee to leave traces in the snowy forest. The task is to abandon her houseplant and then find her way back home. The approach takes place, but with a flower pot and thus as a setting rather than a merging with the environment.

On show are works by Siman Chen, Yunna Diao, Ada Hillebrecht, Eunhye Kim, Stéphane Krust, Ruth Lübke, Quin Mclennan, Janis Mengel, Philipp Michalski, Anne Nitzpan, Minjeong Park, Laura Pientka, Paul Putzier, Ole Prietz, Martin Reichmann, Berit Riekemann, Seung Hyun Seo, Nala Tessloff, Jana Thiel and Kaori Tomita. The project is supervised by Kayle Brandon, Bettina von Dziembowski, Ruth Rubers, Ingo Vetter and Olav Westphalen.

The outdoor projects will be realised individually and completed between March and June 2021. A complementary exhibition at Kunstverein Springhornhof will take place from 26 June to 11 July 2021.

Forced Feral is a project of the Kunstverein Springhornhof e.V. and the Hochschule für Künste Bremen. Funded by the State of Lower Saxony and the Lüneburg Regional Association (Lüneburgischen Landschaftsverband), Karin und Uwe Hollweg Stiftung, Waldemar Koch Stiftung, Fonds Innovative Lehre und Freundeskreis der Hochschule für Künste Bremen.