Six Characters
1. Mai 2018 - Ingo Vetter
„Sechs Personen suchen einen Autor“ (Sei personaggi in cerca d’autore) ist ein Drama des sizilianischen Autors Luigi Pirandello. Erstaufgeführt 1921, gilt es als eines der Hauptwerke des absurden Metatheaters. Für unsere Exkursion diente dieses Stück als sinnbildliches Beispiel, wie mit einer Situation umgegangen werden kann, in der die wirksamen Charaktere deutlich sind, jedoch keine Erzählung feststeht.
Vom 08 bis 15 April 2018 sind Kunststudierenden der Hochschule für Künste Bremen und Prof. Ingo Vetter zusammen mit Architekturstudierende der Akademie der bildenden Künste Wien und deren Professorin Michelle Howard nach Marzamemi im Süd-Osten Siziliens gefahren, um eine Woche lang ein gemeinsames Programm zu veranstalten. Ausgangspunkt war das benachbarte Naturschutzgebiet Vendicari.
Hier werden am Strand Unmengen von Plastikmüll angeschwemmt, da dieser besonders den Strömungen des Mittelmeeres ausgesetzt ist. Mit Hilfe der Mitarbeiter der Naturschutzgebietsleitung und der Beratung von Dr. Sylvia Frey, Leiterin von Research & Education bei der Meeresschutzorganisation OceanCare, haben wir auf einem abgesteckten Gebiet eine Strandreinigung unternommen und den gesammelten Abfall entsprechend den wissenschaftlichen Vorgaben dokumentiert. Diese Arbeit diente uns als Beispiel einer Methode, mit der Vorgänge an einem Ort beschrieben werden können.
Vendicari liegt jedoch auch zwischen vielen anderen Akteuren, die prägend für die Situation sind: Eine expandierende Agrarindustrie auf der Festlandseite, eines der größten Anbaugebiete für Tomaten in Europa. Die Landwirtschaft geschieht hier sehr kleinteilig, viele der bewirtschafteten Flächen sind nicht größer als ein Hektar. Die Besitzverhältnisse archaisch, es gibt Grundbesitzer und Bauern, die gegen Ernteabgaben die Flächen bewirtschaften. Staatliche Programme oder Subventionen der EU kommen hier selten zu den Produzenten und die Mafia ist in allen Strukturen präsent.
Dank der günstigen Strömung stranden hier viele Boote von Flüchtlingen. Der Weg der gelandeten Flüchtlinge geht zumeist durch das Naturschutzgebiet hinein in die Foliengewächshäuser, wo sie unter prekären Umständen das Geld für die Weiterreise verdienen. Auf Sizilien gibt es drei große Erstaufnahmelager für Flüchtlinge. Es gibt viele schreckliche Berichte aus diesen Lagern und es ist nachvollziehbar, warum diese Art der Erstaufnahme möglichst vermieden wird. Progressive Lokalpolitiker wünschen sich hier einen positiveren Umgang mit den neu Hinzugezogenen – nicht wegsperren, sondern in die Stadtviertel und Dörfer integrieren. Es gibt viel Leerstand von Gebäuden auf der Insel und nun Beispiele von Dörfern, die durch diesen Zuzug wieder aktiviert werden konnten.
Vor der Küste Siziliens liegen Öl- und Gasfelder und es gibt mehrere große Raffinerien. Gela, eine Stunde westlich von Vendicari ist eine solche Raffineriestadt. Seit den 1950iger Jahren wurde hier Erdöl verarbeitet und seit 1965 ist bekannt, dass dies die Stadt, ihre Bevölkerung und das Küstengebiet vergiftet. Erst 2009 wurde die Produktion eingestellt und 2015 das Werk geschlossen. In Betrieb gehalten werden muss die Raffinerie dennoch, ansonsten drohen die Bodenkontaminationen und Restbestände die Gegend zu verseuchen. Bei einer Anlage, deren Fläche ungefähr das halbe Stadtgebiet umfasst, ist die Konversion eine schwer fassbare Aufgabe. Mit viel Subventionen wurde nun ein Teil der Anlage zur „Bio-Raffinerie“ umgebaut und soll Wasserstoff erzeugen mithilfe von Landwirtschaft- und Industrieabfällen.
Dieser Teil Siziliens liegt geologisch auf dem afrikanischen Kontinentalsockel. Der südlichen Enden Europas, die gleichzeitig die nördlichsten Auskragungen Afrikas sind. Es gibt hier viele Situationen, an denen man sich wahlweise an den Rändern oder den Transitzonen befindet.
Eine sehr komplexe Gemengelage und für die Architektur- und Kunststudierenden ging es darum, wie sie dieser Komplexität gerecht werden können, wie in einer solchen Situation überhaupt künstlerisch oder gestalterisch agiert werden kann? Es sind Situationen, mit denen Künstler*innen und Architekt*innen in ihrer Arbeitspraxis bei Bauaufträgen, Biennalen oder internationalen Ausstellungen konfrontiert werden. Gute Vorbereitung, Recherche, Untersuchungen und Zusammenarbeit sind wichtige Elemente dieser Arbeit. Die Exkursion wurde während des letzten Semesters intensiv vorbereitet und der Aufenthalt in Sizilien soll dieses Projekt nicht abschließen, sondern individuelle längerfristige Vorhaben der Studierenden ermöglichen.