Forced Feral / Erzwungene Verwilderung
17. Mai 2025 - Ruth RubersEin Projekt zwischen Lockdown, Land Art und Lauscherohren
(english version below)
Nicht ohne meine Kaffeeschuhe! Und nur mit Muschelschalen voller Marmelade nähert man sich den Landschaftskunstwerken des Kunstvereins Springhornhof in der Lüneburger Heide. Mitten in der Pandemie lud Bettina von Dziembowski die Bildhauereiklasse der Hochschule für Künste Bremen ein – unter der Leitung von Kayle Brandon, Ingo Vetter, Ruth Lübke und Olav Westphalen –, sich in Neuenkirchen mit über 40 bestehenden Land-Art-Werken auseinanderzusetzen und eigene Arbeiten zu entwickeln.
Das klang zunächst einfach. Doch die Bedingungen änderten sich schneller als geplant – und genau das machte das Projekt besonders. Forced Feral wurde ein Experiment mit offenem Ausgang. Statt kollektiver Anreise: Einzelaktionen. Statt Workshop im Atelier: Fahrradfahren, Zeltlager und Videocalls. Statt Gruppenbild: 23 sehr individuelle künstlerische Interventionen.
VERWURZELT – eine Performance von Ada Hillebrecht
Wie fühlt es sich an, ein Baum zu sein?
In „verwurzelt“ werden Menschen eingeladen, ihre Füße in die Erde zu stecken – mitten in der Landschaft. Eine kollektive Erfahrung über Standpunkte, Zugehörigkeit und die ambivalente Kraft des Verankertseins.
Verwilderung als Methode
„Erzwungene Verwilderung“ war nicht nur ein poetischer Titel, sondern eine reale Erfahrung: gewohnte Wege verloren sich, Kategorien wie „urban“ oder „ländlich“, „künstlerisch“ oder „natürlich“ gerieten ins Wanken. Statt klassischer Skulptur wurden Pilze gesammelt, Bäume umarmt, Bienen beherbergt und Beton gegossen.
Das Wetter bestimmte den Zeitplan. Digitale Meetings wurden unterbrochen von Windrauschen und schlechten Empfang. Man traf Jäger, Landwirtinnen, Kühe, Ortstein, Wölfe. Und langsam entstand Kunst. Mal als massive Installation wie Martin Reichmanns „Tactical Dancefloor“, mal als stille Performance wie Ada Hillebrechts „Verwurzelt“. Oder in Form einer Hexengruppe namens „Marmelade“, die heimlich im Wald performte und ihre Rituale im Video festhielt.
ADDING ANOTHER TONE TO THE SCHEME – eine Intervention von Philipp Michalski & Ole Prietz
Ein glänzender Fremdkörper im Wald.
Mitten im Grünen wird ein toter Baum zur spiegelnden Skulptur – besprüht mit Chrom, dokumentiert wie ein Graffitistück. Ein Spiel mit Sichtbarkeit, Material und der Frage: Was passiert, wenn urbane Praxis aufs Ländliche trifft?
Zwei Ausstellungen, viele Spuren
Die erste Ausstellung fand im Juni 2021 draußen statt: Entlang des Hahnenbachs zeigten die Studierenden ihre Arbeiten zwischen Wiesen, Wäldern und Wasser. Für Spaziergänger:innen, Vögel, Rehe, Insekten – und gelegentliche Kunstfreund:innen.
Im Juli 2021 wanderte das Projekt nach Bremen in den „Influencers Taubenheim“, wo die Non-Site-Arbeiten – also Videoarbeiten, Skulpturen, Performancedokumentationen und 3D-Drucke – in einer konzentrierten Ausstellung präsentiert wurden.
Für beide Orte galt: Die Werke sprachen nicht nur zu Menschen, sondern auch miteinander und mit ihrer Umgebung.
Tipp: Der digitale 3D-Rundgang ist weiterhin online verfügbar.
Ein Fuß auf einem Stein, eine Hand auf einem Baumstamm: In Gipsabdrücken machen Yunna Diao und Siman Chen ihre Anwesenheit sichtbar. Ihre Arbeit ist eine stille Begegnung mit der Landschaft – und ein Versuch, die Zeit selbst festzuhalten.
Land Art heute?
Forced Feral griff die Geschichte der Land Art auf – aber nicht als heroische Erdbewegung, sondern als Suchbewegung zwischen Rückzug und Eingriff. Es ging nicht darum, die Natur zu bezwingen oder großflächig umzuformen, sondern darum, auf sie zu reagieren. Der Begriff „Land Art“ wurde von vielen neu gedacht: als ökologische Annäherung, als stille Geste, als kollektives oder tiergestütztes Projekt, als Sound-Installation oder schlicht als Spaziergang mit Betonform.
Zwei Lautsprecher, die nie Musik spielen werden.
Mitten im Wald stehen Martins Betontürme – schwere Nachbauten ikonischer Festivalboxen.
Sie erinnern an Clubnächte, Raves, Ekstase – und an deren jähen Stillstand.
Ein Denkmal für eine unterbrochene Kultur, irgendwo zwischen Zukunft und Ruine.
Beteiligte Künstler:innen
Siman Chen, Yunna Diao, Ada Hillebrecht, Eunhye Kim, Stéphane Krust, Ruth Lübke, Quin Maclennan, Janis Mengel, Philipp Michalski, Anne Nitzpan, Minjeong Park, Laura Pientka, Paul Putzier, Ole Prietz, Martin Reichmann, Berit Riekemann, Seung Hyun Seo, Nala Tessloff, Jana Thiel, Kaori Tomita, Raphael Wutz.
Betreut durch:
Kayle Brandon, Bettina von Dziembowski, Ruth Lübke, Ingo Vetter, Olav Westphalen, Monika Zimmermann
Unterstützt durch:
Kunstverein Springhornhof e.V., Hochschule für Künste Bremen, Stiftung Niedersachsen, Lüneburgischer Landschaftsverband, Karin und Uwe Hollweg Stiftung, Waldemar Koch Stiftung, Fonds Innovative Lehre, Freundeskreis der HfK Bremen.
A PROJECT BETWEEN LOCKDOWN, LAND ART AND LISTENING EARS
Not without my coffee shoes! And only with clamshells full of jam can one approach the landscape artworks of the Springhornhof Art Association in the Lüneburg Heath. In the middle of the pandemic, Bettina von Dziembowski invited the sculpture class of the University of the Arts Bremen – led by Kayle Brandon, Ingo Vetter, Ruth Lübke and Olav Westphalen – to explore and respond to over 40 existing Land Art pieces and create their own works in Neuenkirchen.
It sounded simple at first. But conditions changed faster than expected – and that’s exactly what made the project so special. Forced Feral became an open-ended experiment. Instead of a collective field trip: solo ventures. Instead of a studio workshop: bike rides, tent camps and video calls. Instead of a group photo: 23 very individual artistic interventions.
FERALITY AS METHOD
“Forced Feral” was not just a poetic title – it became a real experience. Familiar paths faded, and categories like “urban” or “rural”, “artistic” or “natural” started to blur. Instead of classical sculpture, mushrooms were foraged, trees hugged, bees hosted and concrete poured.
The weather dictated the schedule. Digital meetings were interrupted by gusts of wind and poor reception. We met hunters, farmers, cows, hardpan, and wolves. And slowly, art emerged – sometimes as a massive installation like Martin Reichmann’s Tactical Dancefloor, sometimes as a quiet performance like Ada Hillebrecht’s Verwurzelt. Or as a witch group called Marmelade who performed in secret in the forest and documented their rituals on video.
TWO EXHIBITIONS, MANY TRACES
The first exhibition took place outdoors in June 2021: students presented their works along the Hahnenbach stream – in fields, forests and near water. For walkers, birds, deer, insects – and the occasional art enthusiast.
In July 2021, the project moved to Bremen and into “Influencers Taubenheim”, where the Non-Site works – video pieces, sculptures, performance documentation and 3D prints – were presented in a focused indoor exhibition.
In both locations, the works didn’t just speak to people, but to each other and their surroundings.
Tip: A digital 3D tour of the exhibition is still available online.
LAND ART TODAY?
Forced Feral picked up the thread of Land Art – but not in the heroic, earth-moving sense. Rather, it became a search movement between retreat and intervention. It wasn’t about conquering nature or reshaping it on a large scale – but about responding to it. The term “Land Art” was reimagined by many: as an ecological approach, a quiet gesture, a collaborative or animal-supported project, a sound installation, or simply a walk with a concrete form in tow.
PARTICIPATING ARTISTS
Siman Chen, Yunna Diao, Ada Hillebrecht, Eunhye Kim, Stéphane Krust, Ruth Lübke, Quin Maclennan, Janis Mengel, Philipp Michalski, Anne Nitzpan, Minjeong Park, Laura Pientka, Paul Putzier, Ole Prietz, Martin Reichmann, Berit Riekemann, Seung Hyun Seo, Nala Tessloff, Jana Thiel, Kaori Tomita, Raphael Wutz.
PROJECT SUPERVISORS
Kayle Brandon, Bettina von Dziembowski, Ruth Lübke, Ingo Vetter, Olav Westphalen, Monika Zimmermann
SUPPORTED BY
Kunstverein Springhornhof e.V., University of the Arts Bremen, Stiftung Niedersachsen, Lüneburgischer Landschaftsverband, Karin und Uwe Hollweg Stiftung, Waldemar Koch Stiftung, Fonds Innovative Lehre, Friends of the HfK Bremen.
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